Striedinger zur Neutralität: "Ich könnte dazu eine private Antwort geben."
Österreich könnte sich gegen einen Angriff mit Raketen und Drohnen nicht wehren, sagt Rudolf Striedinger. Der frischernannte Generalstabschef über die Wiederentdeckung der Landesverteidigung, Soldaten als Hilfspolizisten und neue Düsenjets.
Herr General, Verteidigungsministerin Klaudia Tanner hat sich im August für Sie als neuen Generalstabschef entschieden. Warum wurden Sie von Bundespräsident Alexander Van der Bellen erst jetzt offiziell dazu ernannt?
Striedinger
Der Hintergrund ist, dass dazwischen eine Bundespräsidentenwahl stattgefunden hat. Wahrscheinlich haben interne Beurteilungen in der Präsidentschaftskanzlei dazu geführt, dass man ein bisschen gewartet hat.
Welche internen Beurteilungen denn?
Striedinger
Meiner Meinung nach hängen sie mit dem Wahlkampf zusammen.
Der Bundespräsident hat wiederholt eine bessere Ausstattung für das Heer urgiert. Bis 2032 gibt es nun 16 Milliarden Euro mehr. Ist das ein Tropfen auf dem heißen Stein oder ein Quantensprung?
Striedinger
Es ist das, was wir brauchen, um das Bundesheer wieder für die militärische Landesverteidigung aufbauen zu können. Besonders wichtig ist, dass ein eigenes Gesetz den Budgetpfad bis 2032 festlegt. Gerade die großen Beschaffungen dauern viele Jahre, dafür muss eine lange Finanzierungsperiode sichergestellt werden.
Damit nicht wieder ein SPÖ-Verteidigungsminister Investitionsprojekte absagen kann?
Striedinger
Projekte, die vertraglich fixiert sind, halten in der Regel. Die eine Ausnahme waren die Eurofighter, wo man bei Nachverhandlungen von 18 auf 15 Stück gehen musste.
Wenn Sie sagen, man muss wieder die militärische Landesverteidigung aufbauen, heißt es im Umkehrschluss, dass das Heer in den letzten Jahren dazu nicht fähig war.
Striedinger
Das ist immer eine Frage der Interpretation und der Bedrohungslage. Natürlich war auch immer wieder eine Pandemie und eine militärische Konfrontation Russlands ein Thema. Aber realpolitisch ging die europäische Entwicklung in die Richtung, dass sich eine friedliche Koexistenz ergeben könnte. Und das ist brutal beendet worden.
Wie konnte man so überrascht werden von dem Ukraine-Krieg?
Striedinger
Ich kenne niemanden, der vor zwei Jahren gesagt hätte: Das wird Anfang 2022 passieren. Wir haben es zwar nie ausgeschlossen. Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas als unwahrscheinlich erachtet oder ob man aufgrund einer konkreten Gegebenheit reagieren muss.
Vor zwei Jahren haben Sie in einem Hintergrundgespräch auch die klassische militärische Landesverteidigung relativiert-das war also ein Fehler?
Striedinger
Nein. Das würde ich so nicht betrachten. Wir haben ein Regierungsprogramm, in dem sehr klar definiert wurde, wo der Schwerpunkt des Bundesheeres zu liegen hat. Und aufgrund des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine haben sich diese Schwergewichte verlagert. Die klassische militärische Landesverteidigung tritt unter einer neuen Bedrohungslage wieder in den Vordergrund.
Das Heer hat in den letzten Jahren aber auch immer gesagt, dass es mit den knappen Mitteln selbst Katastropheneinsätze nicht mehr wirklich schafft.
Striedinger
Das ist leider Gottes deutlich übertrieben worden, und das stimmt auch überhaupt nicht. Dass wir alle Assistenzanforderungen und Auslandseinsätze immer erfüllt haben, ist der Nachweis für unsere Leistungsfähigkeit.
Also wurde im eigenen Haus übertrieben?
Striedinger
So ist es.
Wie sieht das moderne Streitkräfteprofil nun aus?
Striedinger
Vor eineinhalb Jahren haben wir entschieden, in welche Richtung sich das Bundesheer entwickelt soll: weg von der Auslandseinsatz-Orientierung und hin zum Ernstnehmen der militärischen Landesverteidigung in Österreich.
Rudolf Striedinger, 61
ist seit vergangener Woche Generalstabschef des Bundesheeres. Zuvor war er unter anderem Militärkommandant in Niederösterreich und Chef des Abwehramtes. 2020 ernannte ihn Verteidigungsminis terin Klaudia Tanner (ÖVP) zu ihrem Stabschef, ab 2021 leitete er die Generalstabsdirektion.
Aber zu welchem Preis konzentriert man sich auf Assistenzeinsätze? Unteroffiziere verlassen das Heer, weil sie sich als Hilfspolizei fühlen. Und für Auslandseinsätze fehlt das Personal.
Striedinger
Wir haben insbesondere durch die Pandemie eine extreme Überlastung der personellen Ressourcen des Bundesheeres. Was uns nach wie vor permanent belastet, ist der Migrations-Assistenzeinsatz. Aber wir können uns die Assistenzanforderungen nicht aussuchen. In meiner nachträglichen Betrachtung haben wir in der Pandemie mehr aus dem System herausgeholt, als auf Dauer erträglich ist.
Und die Ausbildung leidet, vor allem bei den Grundwehrdienern.
Striedinger
Dass wir Leute, die wir für die militärische Landesverteidigung ausbilden wollten, drei Monate an der Grenze stellen müssen, führt dazu, dass wir sie für die Miliz wahrscheinlich verloren haben. Genauso wie für das sehr erfolgreiche Modell, nach dem Grundwehrdienst für drei Monate in den Assistenzeinsatz zu gehen.
Auch in die Luftraumüberwachung soll investiert werden. Wann werden denn die Eurofighter den Luftraum durchgehend, also täglich 24 Stunden, überwachen können?
Striedinger
Wir rüsten bei den Eurofightern nach, damit die Identifizierung von Flugzeugen in der Nacht möglich ist. Das ist die Voraussetzung dafür, überhaupt 24 Stunden lang den Luftraum überwachen zu können. Ähnlich wie bei einer Rasterfahndung können wir dann Zeiträume definieren, in denen wir über mehrere Tage den Luftraum durchgehend mit Eurofightern überwachen. Das geht aber nur zeitlich begrenzt, weil wir dafür nicht nur Piloten und Techniker, sondern Fluglotsen und die gesamte Infrastruktur des Flughafens brauchen.
Im März flog eine Drohne aus der Ukraine bis nach Kroatien, wo sie abstürzte.
Striedinger
Unsere Luftraumüberwachung hat sie beobachtet.
Die NATO offenbar nicht.
Striedinger
Das stimmt nicht. Sie hat nur nicht darauf aktiv reagiert.
Wie hätten wir reagieren können, wenn sie in den österreichischen Luftraum eingedrungen wäre?
Striedinger
Bei Tag wären die Eurofighter zur Bekämpfung aufgestiegen. Wenn es Nacht gewesen wäre, hätten wir beobachten können, wo sie runterfällt.
Sie haben sich ja immer für ein Zweiflottensystem ausgesprochen. Wann wird die Saab 105 ersetzt?
Striedinger
Es war eine rein finanzielle Entscheidung, die 105 nicht zu ersetzen. Es zeichnet sich ab-aber es ist keine beschlossene Sache-,dass es jetzt finanziell akzeptabel ist, einen Düsentrainer als Nachfolger zu beschaffen. Mit dem könnten wir zwei Dinge erfüllen: einen Teil der Eurofighter-Ausbildung in Österreich absolvieren und teilweise die Luftraumüberwachung abdecken.
Wird am Ende aus der Luftraumüberwachung eine Luftraumverteidigung?
Striedinger
Dazu fehlen uns die Mittel, Luftraumverteidigung ist etwas ganz anderes. Dazu bräuchte man mehr Flughäfen, mehr Staffeln. Was wir jedenfalls angehen werden, ist die sogenannte bodengebundene Luftabwehr. Das muss deutlich verbessert werden, denn jetzt sind wir in der Lage den Militärflugplatz Zeltweg zu schützen, aber das ist es dann auch schon.
Nur bei Angriffen in einem Radius bis zehn Kilometer.
Striedinger
Ja, wenn überhaupt. Aber da haben wir fix und fertige Planungsdokumente. Wir befinden uns auf dem Weg, die Luftabwehrlenkwaffe Mistral zu erneuern und für die mittleren Reichweiten von 40 Kilometern die Fliegerabwehrlenkwaffen zu beschaffen.
Sie haben einmal dafür plädiert, für einen Raketenschutzschild auf europäischer Ebene zusammenzuarbeiten. Einige EU-Staaten, die NATO-Mitglied sind, planen das nun. Kann sich Österreich beteiligen?
Striedinger
Rein technisch sehr wohl. Es ist aber auch eine finanzielle Frage. Im jetzigen Budgetrahmen ist so ein Projekt nicht abzudecken. Es müsste sich dazu eine günstige Möglichkeit ergeben und auch politisch klargestellt werden, dass wir an dieser europäischen Luftverteidigung teilnehmen wollen, und ich bezeichne sie jetzt ganz bewusst nicht als NATO-Luftverteidigung.
Es wird eine NATO-Projekt sein.
Striedinger
Mag schon sein, dass es unter NATO-Führung läuft. Aber man muss zum gegebenen Zeitpunkt beurteilen, wie das im Detail geregelt ist, etwa in Zusammenhang mit dem Datenaustausch. Oder ob es die Möglichkeit gibt, diesen Schild geografisch zu begrenzen, sodass man etwa den österreichischen Sektor mit eigenen Mitteln abdeckt.
Kiew wird seit zwei Wochen mit Raketen und Drohnen angegriffen. Wien wäre bei einem ähnlichen Angriff schutzlos.
Striedinger
Derzeit ja. Im Kern haben wird die Fähigkeit zur Verteidigung gegen Angriffe aus der Luft aber nicht verloren. Auch bei den mechanisierten Systemen wie Kampfpanzern und Schützenpanzern haben wir den Kern erhalten. Darauf können wir jetzt aufbauen und die Systeme entsprechend modernisieren.
Wie schätzen Sie denn die aktuelle Bedrohungslage für Österreich ein?
Striedinger
Von einer unmittelbaren militärischen Bedrohung durch Russland ist nicht auszugehen. Das heißt aber nicht, dass es keine Bedrohungsmöglichkeiten unterhalb dieser Ebene gibt. Wir sehen in Europa Anschlagsformen, deren Urheber nicht identifiziert sind. Man denke an die Sabotageakte gegen das deutsche Eisenbahnnetz oder die gesprengte Pipeline in der Ostsee. Ähnliches kann auch in Österreich passieren. Wir sind zwar neutral, werden aber aus russischer Sicht nicht als neutral betrachtet, etwa weil wir uns an den Sanktionen gegen Russland beteiligen.
Wann wird das Heer fit genug sein, um auf solche Bedrohungslagen reagieren zu können?
Striedinger
Wir haben jetzt einen Aufbauplan bis zum Jahr 2032, der eine erste ernsthafte umfassende Landesverteidigung sicherstellen wird. Unter einer Bedingung: Neben der materiellen und infrastrukturellen Situation muss die personelle Situation dazu passen. Ohne Personal zählt das beste Material nichts. Unteroffiziere verlassen teilweise das Bundesheer. Die Modernisierung des Heeres bringt aber auch mehr Attraktivität. Ein Beispiel: In Aigen im Ennstal werden die neuen Leonardo-Hubschrauber stationiert. Dort gibt es viele Leute im technischen Bereich, die sich dafür interessieren. Modernes Gerät weckt Interesse, auch im Cyber-Bereich.
Wird es wieder verpflichtende Militärübungen für Milizsoldaten geben?
Striedinger
Die Wehrpflicht beschränkt sich auf den Grundwehrdienst. Im Rahmen der Miliz können sich Grundwehrdiener freiwillig für Übungen verpflichten. Anreize dazu sind finanzieller Natur, kombiniert mit einer guten Ausbildung. Was wir darüber hinaus in Angriff nehmen, ist das Bereitstellen von rasch verfügbaren Milizeinheiten, die mehr üben und eine höhere Einsatzbereitschaft aufweisen.
Als niederösterreichischer Militärkommandant haben Sie den damaligen Minister Hans Peter Doskozil aufgefordert, sich für die Verlängerung des Grundwehrdienstes auf acht Monate einzusetzen. Warum stellen Sie diese Forderung jetzt nicht an Verteidigungsministerin Klaudia Tanner?
Striedinger
Weil wir jetzt eben für die Miliz ein attraktives System implementiert haben, das erst seine volle Wirkung entfalten muss. Die ersten Signale sind positiv. Wir werden uns die weitere Entwicklung aber genau anschauen. Denn das System Bundesheer ist nur dann einsatzfähig, wenn der überwiegende Teil der Organisation tatsächlich übungswillige Soldatinnen und Soldaten sind oder Berufssoldaten.
"Ich könnte dazu eine private Antwort geben. Als Generalstabschef lautet die Antwort: Wir haben die Neutralität so, wie sie ist, und wir machen das Beste draus."
Den Generalstabschefs der EU-Staaten werden Sie unsere Neutralität erklären müssen. Finnland und Schweden treten der NATO bei, neutral sind nur noch Österreich und die Inseln Irland, Malta und Zypern.
Striedinger
Die Generalstabschefs sind pragmatische Experten, die die Situation in Bezug auf unsere Neutralität sehr gut verstehen. Wie wir diese Neutralität auslegen, ist eine politische und gesellschaftliche Frage. Wir wissen, wie die Österreicherinnen und Österreicher über die Neutralität denken. Wenn es so ist, wie es ist, dann machen wir das Beste draus. Das heißt für uns, das Bundesheer für alle Eventualitäten so aufzustellen, dass wir im Ernstfall zunächst einmal allein zurechtkommen.
Das klingt jetzt nicht so, als ob Sie die Neutralität in Ihrem Herzen tragen.
Striedinger
Ich könnte dazu eine private Antwort geben. Als Generalstabschef lautet die Antwort: Wir haben die Neutralität so, wie sie ist, und wir machen das Beste draus.